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Goethe und Schiller

Mein Tischgenosse VVeyland1), der sein stilles, fleissiges Leben dadurch erheiterte, dass er, aus dem Elsass gebürtig, bei Freunden und Vervvandten in der Gegend von Zeit zu Zeıt einsprach, leistete mir auf meinen kleinen Exkursionen man- chen Dienst, indem er mich in verschiedenen Ortschaften und Famiiien teils persönlich, teils durch Empfehlungen einführte. Dieser hatte mir öfters von einem Landgeistiichen gespro- chen, der nahe bei Drusenheim2), sechs Stunden von Strass- burg, im Besitz einer guten Pfarre mit einer verstândigen Frau und ein paar iiebensvvürdigen Töchtern lebe. Die Gastfrei- heit und Anmut dieses Hauses ward immer dabei höchlich gerühmt. So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angevvöhnt hatte, aile abzumüssi- genden Tage und Stunden zu Pferde und in freier Luft zuzu- bringen. Also entschlossen wir uns auch zu dieser Partie3), —

“‘Die schöne Chaussee, das herrlichste Wetter und die Nahe des Rheins geben uns den besten Humor. İn Drusenheim hielten wir einen Augenblick an, dann ritten wir einen anmu- tigen Fusspfad über Wiesen, gelangten bald nach Sesenheim, liessen unsere Pferde im VVirtshause und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe. — ,,Lass dich”, sagte Weyland, indem er mir das Haus von weitem zeigte, „nicht irren, dass es einem alten und schlechten Bauerhause ahnlich sieht; in- wendig ist es desto jünger.” — Wir traten in den Hof: das Ganze gefiel mir wöhl; denn es hatte gerade das, was man

!) Ein junger Jurist, mit Goethe befreundet und mit der Familie Brion vervvandt.

2) Dorf nordöstlich von Strassburg; Sesenheim liegt noch einige Kilometer weiter nördlich.

3) Goethes erster Besuch in Sesenheim fiel in den Oktober 1770.

malerisch nennt und was mich in der njederlândischen Kunst so zauberisch angesprochen hatte. Jene Wirkung war gevval* tig sichtbar, welche die Zeit über alles Menschenvyerk ausübt. Haus und Scheune und Stall befanden sich in dem Zustande des Verfalls gerade auf dem Punkte, wo man unschlüssig, zvvischen Erhalten und Neuaufrrchten zvveifelhaft, das e:irie unterlasst, ohne zu dem cmdern gelangen zu können.

Alles war stilf und menscfrenleer, wie im Dorfe so im Hofe. Wir fanden den Vater4), einen kleinen, in sich gekehr- ten, aber doch freundlichen Mann, ganz allein, denn die Fa- milie war auf ,dem Felde. Er hiess uns willkommen, bot unş eine Erfrischung an, die wir ablehnten. Mein Freund eilte, die Frauenzimmer aufzusuçhen, und ich ^blieb mit unserem Wirt allein. — Die Zutraulichkeit des Mannes hatte was Eignes; er sprach zu mir, als wenn er mich zşhn Jahre ge- kannt hatte, ohne dass irgend etwas. in söinem Blick gewesen ware, woraus ich etniğe Aufmerksamkeit auf mich hatte mut- massen können. Endlich trat mein Freund mit der Mutters5) herein. Diese schien mich mit ganz anderen Augen anzusehen, ihr Gesicht war regelmasşig und der Ausdruck desselben vef- standig; sie musste in ihrer Jugend schön gewesen sein. Ihre Geştalt vvar lang. und hager, doch nicht mehr, als solchen Jahren geziemt; sie hatte vom Rücken her nochr ein ganz jugendliches, angenehmes . Ansehön. Die., alteste Jochter6) kam darauf le’bhaft hereingestürmt; sie fragte nach Friedri- ken, so wie die andern beiden auch nach’ ihr gefçagt hatten. Der Vater versicherte, sie nicht gesehen zu haben, seitdem aile drei fortgegangen. Die Tochter fuhr vvleder zur Tür hin- aus, um die Schwester zu suchen; die Mutter brachte uns einige Erfrischungen, und Weyland setzte mit den beiden Gatten das Gesprach fort, das sich auf lüuter bewusste Per- sönen und Verhaltnfese bezog, wie es zu geschehen pflegt,

‘/ 4) Johann Jakob Brion aus Strasburg, 53 jöhrig,

5) Ein© geborene Schöll aus Baden, 46 öjhrig.

6) Eigentlich die zweit©, Maria Salomea 20 jâhrig, bei Goethe Olivia genannt; die alteste war in der Fremde verheiratet.

wenn Bekannte nach einiger Zeit zusammenkommen, von den Gl;ede*n eines gossen Zirkels Erkundigungen eınzieh’n und S’ch wechse!we’se berichten. leh hörte zu und erfuhr nun- mehr, vvieviel ich mir von diesem Kreise zu verspreehen haîte.

Die alteste Tochîer kam vvieder hastsg in die Stube, un- ri’h g ih,*e Schwester nicht gefunden zu haben Man war be- sorgt um s.e und schalt auf diese oder jene böse Gevvohnheit; nur der Vater sagıe ganz ruhig: „Lasst sie immer gehn, sie kommt sehon w;eder!” İn diesem Augenblick trat sie wirkîich in d:e Tür; und da ging fürvvahr an diesem landlichen Him- mel ein aüerPebsler Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wıe man es zu nennen pflegte, und diese fast verd*arg’e Nat onakracht kleidete Friederiken besonders gut. Ein kurzes, vveisseö, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht langer, als dass die nettsten Füsschen bis an die Knö- chel sichtbar biieben; ein knappes, weısses Mieder und eine schwarze Taffetschürze — so stand sie auf der Grenze zwi- sehen Bauerin und Stadterin. Schlank und leicht, als wenn sie nchts an sich zu tragen hatte, sehritt sie, und beinahe sch*’en für die gevvaltigen bionden Zöpfe des nıedlichen Köpf- ehen der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutîıch umher, und das artige Stupfnaschen forseh- te so freı in d’e Lufi, als wenn es in der We!t keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie be,Jm ersten Bück auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu seh’n und zu erkennen.

ASİe Familienmitglieder hatten einige Worte mit mır ge- sps’ochen, die Mutter betraehtete mich jedesmal, sooft sie kam oder ging, aber Friederike liess sich zuerst mit mir in ein Gespröch ein, und indem ich umherliegende Noteri auf- nahm und durehsah, fragte sie, ob ich auch spiele? Als ich es bejahte, ersuchte sie mich, etwas vorzutragen; aber der Vater liess mich nicht dazu kommen; denn er behauptete, es sei schicklich, dem Gast zuerst mit irgend eınem Musik- stück oder çinem Liede zu dienen

Sie spielte verschiedenes mit einiger Fertigkeit in der

Art, wie man es auf dem Lande zu hören pflegt/ und zwar auf einem Kiavier, das der Schulmeister schon Iangst hatte stimmen sollen, wenn er Zeit gehabt hatte. Nun sollte sie auch ein Lied singen, ein gevvisses zârtlichtrauriges; das gelang ihr nun gar nicht, Sie stand auf und sagte laöhelnd oder vielmehr mit dem auf ihrem Gesicht immerfort ruhen- den Zuge von heiterer Freude: „Wenn ich schlecht singe, so* kann ich d\e Schuid nicht auf das Kiavier und den Schul­ meister vverfen; iassen Sie uns aber nur hinauskommen, dann sollen Sie meine Elsasser- und Schvveizerliedchen hö­ ren, die klingen schon besser.”

AIs ich in der Stadt vvieder an meine Geschafte kam, f.ühlte ich die Beschvverlichkeit derselben mehr als sonst; denn der zur Tatigkeit geborene Mensch übernimmt sich \n Planen und überladet sich mit Arbeiten. Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgendein physisches oder mora- lisches Hindernis dazutritt, um das Unverhaltnismassige der Krafte zu dem Unternehmen ins klare zu bringen.

Das Juristische trieb leh mit so viel Fleiss, als nötig war, um die Promotion7) mit einigen Ehren zu absolvieren; das Medizinische reizte mich, weil es mir die Natur nach ailen Seiten, wo nicht aufschloss, doch gevvahr werden Hess, und ich war daran durch Umgang und Gewohnheit gebünden; der Gesellschaft musste ich auch einige Zeit und Aufmerk-

samkeit widmen; denn in manehen Familieh-war mir mehre- res zu Lieb und zu Ehren geschehen. Aber alles dies ware zu tragen und >fortzuführen geyvesen, hatte nicht das, was Herder mir .auferiegt, unendlich auf mir gelastet. Er hatte den Vorhang zerrissen, der mir die Armut der deutschen Literatür bedeckte; er hatte mir so manehes Vorurteil mit Grausamkeit zerstört; an dem vaterlandischen Himmel blie- ben nur wenîge bedeuîende Sterne, indem er die übrigen aile nur als vorüberfahrende Schnuppen behandelte; ja was ich von mir selbst hoffen und wahnen konnte, hatte er mir der-

7) Goethes Promotion, durch die er den Lizenziatentitel erwarb, fiel in den August 1771

war gemildert, und ich fand mich, dem Taume» des Lebe- wohls endlich entfloh’n, auf einer fneaıichen und erheitem- den Reise so ziemlich wieder.

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Und wenn der Mensch in se.ner Qual verstummt, gab mır ein Gott zu sagen, was ich leide

Vorspruch zur „Elegie”

Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abvveichen konnte, namiich dasjenige, was mich erfreute oder qualte, oder sonst bescbaftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir sdbst abzuschliessen, um sowohl meine Begriffe von den ausseren Dirgen zu bericmigen, als mich im Innern zu beruhigen — alles, was daner von mir bekannt ge- vvorden, sind nur Bruchstücke einer grossen Konfession.

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